Mittwoch, 10. Juni 2009

Buchbeitrag - Wie gelingt der Switch von Offline zu Online?

Wie gelingt der Switch von offline zu online?
Erfahrungen bei einem kommunalen Gemeinschaftprojekt

"header" Einleitung

August Wilhelm Scheer schreibt: „Kern des Web 2.0 sind soziale Netzwerke und die Möglichkeit, sehr einfach eigene Inhalte im Internet zu publizieren. Worum geht es konkret? Mehrere Menschen wissen selbstverständlich mehr…die neuen Web 2.0 Anwendungen bieten die perfekte Plattform für die Vernetzung von Menschen.“ [1]

Wer sich wie ich über Jahrzehnte in allen möglichen sozialen Projekten[2] darum bemüht hat, soziale Netzwerke aufzubauen und zum Funktionieren zu bringen, der liest so einen Hinweis mit Freude und voller Hoffnung, hatte ich mich doch gerade mit der Betreuung eines „neuen Babys“ engagiert und fragte mich, wie wir mit den knappen Ressourcen (in jeder Hinsicht) dieses Baby möglichst bald zum Laufen bringen könnten.

In der Vergangenheit erinnere ich die vielen Stunden, die ich in Gremienarbeit, Sitzungen und Zusammenkünften, um Projekte vorwärts zu bringen, verbracht habe, nicht unbedingt als produktive Phasen, sondern eher als unvermeidliche Pflichttermine meines Lebens. Wenn es Möglichkeiten und Technologien gibt, die die Produktivität bei solchen Aufgabenstellungen erhöhen können, dann bin ich bereit, all die notwendigen Schritte zu tun, die zu deren Anwendung erforderlich sind. Die Erfahrung der Steigerung meiner Produktivität durch das Aufkommen der PCs in den 80er Jahren hatte ich als wichtige Veränderung genauso wie die Nutzung des Internets seit den frühen 90er Jahren des letzten Jahrhunderts als Referenzpunkt im Kopf.

"header" Situationsskizze

Kirchanschöring wurde beim 21. Wettbewerb (2002 - 2004) "Unser Dorf soll schöner werden - unser Dorf hat Zukunft" mit einer Goldmedaille auf Bezirks-, Landes- und auf Bundesebene ausgezeichnet.

Begründung der Jury:
"Ein innovatives Dorf, das in vernetzten Kreisläufen vorbildlich handelt und somit Leben und Arbeiten in einem qualitätsvoll gestallten Wohnumfeld ermöglicht. Besonders hervorzuheben ist das Engagement und weitsichtige Handeln im sozialen Bereich innerhalb des Gemeinwesens."

http://www.kirchanschoering.info/gemeinde/upload/bilder/01-Gemeindestruktur/GoldBerlin036.jpg

Seit Frühjahr 2005 bin ich zusammen mit Brigitta, einer Architektin und erfahrenen Kommunalpolitikerin in Kirchanschöring heimisch geworden. Wir haben dort das ideale Haus für unseren Lebensabend gefunden und sind schnell dann da auch heimisch geworden, weil wir uns von dem offenen Geist[3] dieser kleinen Gemeinde (ca. 3200 Einwohner) im Südosten Bayerns im Landkreis Traunstein mit offenen Armen empfangen und aufgenommen gefühlt haben, ganz so wie die Jury die Preisvergabe der Goldmedaille auch begründet hat.

Kirchanschöring hatte sich damals gerade ein neues Projekt vorgenommen, nämlich ein „Haus der Begegnung“[4] als kommunales Gemeinschaftsprojekt mit möglichst viel ehrenamtlichem Bürgerengagement zu verwirklichen. Wir haben uns sofort in der Projektgruppe engagiert und uns gefreut, dass es in der Projektgruppe gute Motivation und Bereitschaft gab, das Projekt über die vielen normalen Hindernisse vorwärts zu bringen. Als im März dieses Jahres die Projektgruppe als ersten konkreten Realisierungsschritt die Eröffnung eines Sozialbüros in der Gemeinde präsentierte, nahm ich mir vor, als meinen nächsten Beitrag diesem Projekt eine Web 2.0 Plattform zu organisieren. Angeregt durch die Lektüre von „Die Kunst loszulassen“ von Willms Buhse / Sören Stamer[5] hatte ich im Herbst 2008 begonnen, eine internationale Web 2.0 Plattform für Wellness Professionals mit aufzubauen und dabei die ersten Schritte als „Digital Immigrant“ zu tun. Es müsste doch nicht so schwer sein, so ein überschaubares, in vieler Sicht ganz konkret handhabbares Projekt durch die Nutzung von Web 2.0 Strukturen mit dem nötigen kommunikativen Schub zu versehen.

Also fragte ich Michaela Conley, die das in USA sehr erfolgreiche HPCareerNet begründet hatte und danach die internationale Plattform IDWellness gestartet hatte, ob ich mein Projekt „Haus der Begegnung“ ebenso bei IDWellness unterbringen könnte und ob sie mir als Tutor dabei etwas zur Seite stehen könnte. Natürlich bekam ich eine positive Antwort und dachte mir noch, diese Internet-Avantgarde ist ja doch eine sehr wache, freundliche und kooperative Gruppe von Menschen, nicht unbedingt das, was man so über das Internet lesen kann wie[6] :

Die ganze Diskussion rund um die "Internetsperren gegen Kinderpornographie" zeigt uns ganz klar, wo wir in Deutschland mit dem Thema Internet stehen: Nämlich ganz am Anfang.

Es ist bis jetzt nur eine kleine Vorhut der Informationsgesellschaft, die sich intensiv mit Internet und seinen Folgen auseinandersetzt. Für die breite Masse der Bevölkerung ist das Internet immer noch "nur" ebay oder lastminute.de, online-banking oder hotel.de ... und natürlich Wikipedia, damit die panischen Eltern ihren Kindern die Grundschul-Referate schreiben können.

Alles, was darüber hinaus geht, ist aus dieser Perspektive ein wilder, chaotischer Raum, voll von Viren, Porno, Terroristen und Kinderschändern. Bedrohlich und unkontrollierbar. Und das macht vielen erst einmal Angst. Auch wenn es keiner offen sagt.“[7]

Also, ich fange einfach mal an und vertraue meiner eigenen positiven Grundeinstellung.


"header" Was genau wurde gemacht?

Ich habe dann am 16.Januar 2009 die Gruppe „Haus der Begegnung“ auf der internationalen Plattform von ID Wellness eingerichtet und den folgenden ersten Kommentar gepostet[8]:

„Als das Projektteam des Hauses der Begegnung gestern die Eröffnung des Sozialbüros mit einer kleinen Feierstunde im Pfarrsaal startete, war ich beeindruckt, wie effizient und gut vorbereitet dieser Start gelungen ist."Kirchanschöring, do lost se guat´ lebn !" das ist wirklich wahr. Ein kreatives Miteinander, begleitet von dem tätigen Segen durch Pfarrer Kronast und dem lebendigen Engagement eines fähigen Projektteams. Ich dachte: nutzen wir die Möglichkeiten der Moderne, hier das Internet mit der allerneuesten Technologie des sogenannten WEB 2.0., um uns schnell und gleichzeitig einfach miteinander zu verständigen und zu informieren, wie wir unser Projekt "Haus der Begegnung" zügig weiterentwickeln können.

Als ich das schmucke, kleine Sozialbüro sah, fertig eingerichtet, mit Internetanschluss, dachte ich, da fehlt jetzt nur noch eine moderne eigene Intranet-Struktur. Dank schneller Kooperation mit Michaela Conley haben wir gestern Abend noch diese Intranet-Struktur für das "Haus der Begegnung" gezimmert. Ich hoffe, dass es für uns alle die Zusammenarbeit vereinfacht und wir ohne große Schwierigkeiten dadurch über die wichtigen Entwicklungen informiert sind und wir uns unkompliziert austauschen und organisieren können.

In diesem Sinne wünsche ich mir rege Beteiligung und möchte alle dazu einladen, die Vorteile neuer Technologien für unser Projekt zu nutzen. Also Herzlich willkommen im "Intranet des Hauses der Begegnung von Kirchanschöring"....

Euer Mark Schmid-Neuhaus“

Die Beschreibung der Gruppe lautet: „Das Haus der Begegnung ist eine lokale Initiative der Bürger und der Gemeinde von Kirchanschöring, um die Lebensqualität durch gemeinsame soziale und gesundheitsbezogene Projekte zu fördern“.

Eingeladen habe ich mehr als 20 Mitglieder der Initiativgruppe. Auf der Plattform gelandet sind bisher 8 Mitglieder, wobei der Prozess mir viel Geduld und Zeit abverlangte und ich auch bei diesen 8 Gruppenmitgliedern zu den meisten persönlich hingehen musste, weil fast niemand mit den Benutzeroberflächenvon Web 2.0 Strukturen vertraut war. Wir haben dann gemeinsam die notwendigen Icons gesucht und angeklickt, bevor sie dann als Mitglieder auf der Plattform ID Wellness Gruppe „Haus der Begegnung“ landeten.

Dort erwarteten sie freundliche Begrüßungstexte wie der hier wiedergegebene Begrüßungspost, mehrere Angebote von Diskussionsforen über Fragen der Organisation, den möglichen gemeinsamen Lernprozess in der Nutzung von Web 2.0 Technologie gemeinsam zu vollziehen, mehrere von mir vorbereitete Blogposts zu Themen wie „Web 2.0 und Enterprise 2.0: neue Technologien, die uns helfen, eine offenere Gesellschaft zu bauen“, „ Erfahrungen bei der Nutzung von Web 2.0 am Beispiel des Hauses der Begegnung“, aktuelle Fotos aus der Arbeit der Initiativgruppe und einige interessante Videos. Obwohl es eine interessante gemeinsame Agenda gibt, kommt es auf der Webplattform kaum zu entsprechenden Interaktionen. Das Zurverfügungstellen von Technologie bewirkt noch nicht unmittelbar auch das In-Gebrauch-Nehmen. Diese Erfahrung hatte ich bereits bei einem anderen, aber durchaus vergleichbaren Projekt mit veermutlich interneterfahreneren Beteiligten gemacht. Der Vorsitzende des Deutschen Wellnessverbandes (DWV) hatte sich ähnlich wie ich als Vorsitzender des Fachbeirates des DWV über die Schaffung der internationalen Plattform IDWellness gefreut, weil wir uns davon einen intensiveren Informationsaustausch mit Mitgliedern und Interessanten versprochen hatten. Passiert ist auf der Gruppenplattform für den Deutschen Wellnessverband noch weniger als auf der Plattform des „Hauses der Bewegung“.

"header" Waren die Erwartungen falsch gewesen? Wo waren die Engpässe?

Nachdem alle Beteiligten am Anfang ihre große Freude über die Möglichkeiten einer gemeinsamen Netzplattform geäußert hatten, war der bisherige Verlauf für mich eher enttäuschend und führte mich zu einer Reihe von Fragen und bestätigt Vermutungen:

· Otto Normalbürger ist im Internet mit Web 2.0 Strukturen noch nicht angekommen.
Allein die praktische technische Handhabung der Benutzeroberflächen überfordert die meisten, die sich theoretisch von den Möglichkeiten von Web 2.0 durchaus für derartige Interaktionsformen zu interessieren bereit sind.

· Wenn die Technik gemeistert werden kann, kann noch lange nicht die Dimension sprachlicher, interaktiver Prozesse praktiziert werden. Die Mühseligkeit von Gemeinschaftsprojekten wird oft durch Selbstdarstellungsproblematiken der Teilnehmer bestimmt. Hohe Interaktivität setzt Praxis voraus, über die Viele noch nicht in hinreichendem Masse verfügen.

· Wer Blogs verfolgt, ist - zumindest ist mir das häufig aufgefallen - erstaunt, wie kurzgliedrig viele Argumentationen verarbeitet - wenn überhaupt - werden. Zustimmung oder Ablehnung...kaum gemeinsame Reflektion, obwohl das Medium doch genau dieses ermöglichen würde. Wahrscheinlich sind die Lernzeiten für solche Instrumente erheblich länger anzusetzen als eine kleine Avantgarde sich das im Moment vorstellen mag. Persönlich erlebe ich jedoch diese Technologie als große Erweiterung und habe mich auf langfristig anzulegende Lernprozesse eingestellt.

· Es kommt mir vor, als hätte ich auch das Bedürfnis an prozessorientierter Reflektion (Selbst- und Fremdreflexion) mit dem Ziel der Klärung komplexerer Sachverhalte auch in überschaubaren Gemeinschaften gewaltig überschätzt. Peter Sloterdijk thematisiert in seinem neuesten Buch "Du mußt Dein Leben ändern" (suhrkamp verlag, 2009, siehe meine Rezension als Plädoyer für eine aufgeklärte kooperative Logik [9]) die Bereitschaft, sich durch Komplexität zu aufwendigeren Klärungsprozessen herausfordern zu lassen. Kultur ist Bewegung in der Vertikalen. Diese Bewegung fordert Engagement...Üben, Üben, Üben. In konsumorientierten Kulturen stellt genau dieses eine Schwierigkeit dar. Konsumieren vollzieht sich überwiegend in der Horizontalen, wo es kaum Widerstände zu überwinden gibt und jeder sich weitestgehend in seinen Komfortzonen bewegen kann.

· Die gegenwärtige Wirtschaftskrise wird in einem mich erstaunenden Ausmaß emotional eher mit Übungen in der "Kunstfertigkeit, es nicht gewesen zu sein" aufgegriffen. Das Ausmaß selbstkritischer Reflektion bleibt erstaunlich gering, was deutlich macht, dass wir noch weite Wege vor uns haben, bis wir uns verantwortlicher und mit hinreichender Transparenz in äußerst komplexen Systemen bewegen können. Auch das verweist darauf, dass die vor uns liegenden Lernprozesse auch in zeitlicher Hinsicht als nicht zu kurz eingeschätzt werden dürfen.

"header" Zwischenergebnisse und Schlussfolgerungen

Es geht also um Lernprozesse in mehrfacher Hinsicht.

Digital Natives sollten sich herausgefordert fühlen, Benutzeroberflächen zu entwickeln, die auch für „Otto Normalverbraucher“ benutzbar sind. So lange zu warten, bis es nur noch Digital Natives gibt, die diese Anpassungsprobleme an neue Technologien nicht haben, erscheint mir unrealistisch angesichts der Absehbarkeit, dass das Fortschreiten technischen Wandels zu den Grundlebensbedingungen unserer Gesellschaften auch in Zukunft gehören wird. Die Möglichkeit kommunikativer Vernetzung und deren baldige Umsetzung kann den erfolgreichen Umgang mit dieser Gegebenheit verbessern.

Wir alle müssen uns darauf einstellen, dass lebenslange intensive Lernprozesse unsere Zukunft prägen werden. Diese Lernprozesse betreffen nicht nur die Integration neuer Technologien, sondern betreffen gleichermaßen die Entwicklung sozialer Kompetenz. Diese Kompetenz der gemeinschaftlichen Nutzung und Entwicklung von Wissen ist das Element, das durch das „Online“-Sein und gemeinschaftlich arbeiten und kommunizieren zu können die großen Produktivitätsgewinne vernetzter Systeme ermöglicht.

Diese Prozesse wirksam handhaben zu können, erfordert allerdings eine systemische Sicht von Gesellschaft und hier sehe ich noch eine lange Wegstrecke des Lernens vor uns liegen. Diese systemische Sicht von Gesellschaft und den vielfältigen jeweiligen Abhängigkeiten von Variablen von dem jeweiligen Kontext – man kann das auch den Umgang mit Komplexität nennen – das stellt die große Herausforderung der Moderne dar, die durch das Entstehen eines „gesellschaftlichen Nervensystems“, wie man das Web 2.0 auch nennen kann, ganz neue Möglichkeiten eröffnet.

Insofern erscheint mir das Projekt dieses Buches ein hilfreicher Schritt bei diesen Lernprozessen zu sein. Meine Rolle verstehe ich dabei sowohl als Brückenbauer, der sich bemüht, zwei durch einen Graben oder Fluss getrennte Ufer zu verbinden. Darüber hinaus aber auch als aufmerksamen Teilnehmer, der die genaue Beschaffenheit der unterschiedlichen Ufer erst einmal entdecken und verstehen muss, bevor er einen erfolgreichen Brückenbau hinbekommt.

Die Diskussion mit den Beteiligten unterstreicht die gerade erwähnten Punkte. Ich will hierzu zusammenfassend ein langes Gespräch mit Hans-Jörg Birner, dem Bürgermeister von Kirchanschöring, über die bisherigen Erfahrungen mit dem Projekt wiedergeben. Als großes

Bürgermeister Hans Jörg Birner und Mark Schmid-Neuhaus im Gespräch

Hindernis sieht Birner die für die meisten ungewohnten technischen Schritte, die von den potentiellen Teilnehmern an der Arbeitsgruppe „Haus der Begegnung“ zu bewältigen waren, um überhaupt real auf der Online-Plattform anzukommen.

  • „Um die Motivation zu haben, diese unbekannten und noch nicht geübten Schritte zu erlernen, müssten unsere Leute verstehen, welche Möglichkeiten sich für sie aus der Nutzung von Web 2.0–Strukturen ergibt. Das ist konkret eine Vorbedingung, die bei uns kaum erfüllt ist. Die Meisten können sich nicht vorstellen, was diese Technologien alles ermöglichen und wie wir qualitativ unsere Projektabläufe dadurch beschleunigen könnten.“
  • „Selbst wenn sie dann online angekommen sind, darf man die Angst, etwas verkehrt zu machen, bei den meisten nicht unterschätzen; vor allem, wenn sie sich in einem Medium bewegen müssen, mit dem sie bisher keinerlei Erfahrungen haben“. Weil er lösungsorientiert denkt, meint er, dass man diese Probleme auf der lokalen Ebene vielleicht durch ein entsprechendes Kursangebot über die lokale Volkshochschule angehen kann. Ihm fällt dabei das Beispiel einer älteren Dorfbewohnerin ein, die an einem vor kurzen von der Volkshochschule organisierten Computerkurs teilgenommen hat und die sich seither begeistert mit ihrem Computer ins Internet wagt.
  • Noch bedeutsamer erscheinen ihm aber die zwischenmenschlichen Widerstandsfronten. „Offene Dialoge sind wir noch nicht gewohnt. Bis sich jeder frei äußern kann und natürlich auch mit der Technik klar kommt, da liegt noch ein langer Weg vor uns. Das sind mehr Lernschritte als die meisten Internetprofis vermuten.“ Gleichzeitig sagt er, „wenn uns dieses Projekt gelingt, dann könnten wir in unserer Gemeindeverwaltung einen weiteren Schritt machen und z.B. die Arbeit an einem neuen Flächennutzungsplan auf einer viel größeren gemeinsamen Plattform weitertreiben und Transparenz in Abläufe bringen, die langfristig die Gemeinde wirklich stärken könnten.“ Allerdings sieht er hier auch schwierig zu überwindende Barrieren: „Ich befürchte, dass sich konkret schnell ein >elitärer Zirkel< bildet , der plötzlich über viel Macht verfügt" und dass Mitglieder des Gemeinderates das durchaus als bedeutsamen Machtverlust wahrnehmen würden, gegen den sie sich mit allen möglichen Mitteln wehren würden. Insofern ist er durchaus skeptisch, ob sich in der Praxis solche Projekte leicht umsetzen lassen, zumal ja der Gemeinderat dann auch den Mitteleinsatz dafür erst mal genehmigen müsste. Gleichzeitig möchte er aber mit solchen Projekten ihm sinnvoll erscheinende Entwicklungen weitertreiben, ist aber auch überzeugt, dass das wohl in diesem konkreten Politikfeld wirkliche und wahrscheinlich langandauernde Pionierarbeit ist. Möglich könnte so etwas dadurch werden, dass man sich darauf einigt, dass die Gemeinde mit entsprechender fachlich qualifizierter Unterstützung ein „Pilotprojekt“ verwirklicht und damit einem in seiner Relevanz im Moment nicht klar einschätzbaren „Fortschritt“ die Türen öffnet.

Auch im politischen Raum ist Change-Management aktuell und es gibt auch Politiker, die sich dieser Veränderungsperspektiven bewusst sind und neue Wege zu gehen bereit sind. Die Praxis allerdings beinhaltet den Umgang mit Widerständen, über die sich die Technikdesigner wahrscheinlich noch nicht genügend Gedanken gemacht haben, sonst würden die Benutzeroberflächen, die technisch den Einstieg bzw. den „switch von offline zu online“ ermöglichen, für Otto Normalbürger einladender sein. Darüberhinaus zeigt sich gerade in der Umsetzung vor Ort, dass die Gegebenheiten von Technologie nur das eine Ufer darstellten Die potentiellen Benutzer am anderen Ufer sind häufig von Emotionen und sehr persönlichen Interessen geleitet. Brücken kann man nur bauen, wenn man sich mit den Gegebenheiten beider Ufer auch in ihrer jeweiligen Tiefendimension zu beschäftigen bereit ist.

Kurzporträt des Verfassers:

Mark Schmid-Neuhaus, geb. 1940, Dr.med., MBA(INSEAD), Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie – Psychoanalyse, derzeit noch in freier Praxis als Berater und Coach vor allem mit Führungskräften arbeitend. 1978 -2002 Leitender Arzt des Zentrums für Gesundheitsförderung „Der Gesundheitspark im Olympiastadion München“, 1979-1986 Vorsitzender der Sektion Gruppenmethoden in Klinik und Praxis im DAGG, 1979 – 1992 Gründungsmitglied und stellv. Vorsitzender der Bayerischen Landesarbeitsgemeinschaft für kardiolog. Prävention und Rehabilitation, danach langjähriger Vorsitzender des Fachbeirates, seit 1992 Vorsitzender des Fachbeirates des Deutschen Wellnessverbandes , seit 2001 Mitglied des Kuratoriums der Fairness-Stiftung.



[1] Willms Buhse / Ulrike Reinhard (Hrsg) DNAdigital, Wenn Anzugträger auf Kapuzenpullis treffen, whois verlags- & vertriebsgesellschaft, 2009

[2] 1978 -2002 als Leitender Arzt des Zentrums für Gesundheitsförderung „Der Gesundheitspark im Olympiastadion München“, 1979-1986 als Vorsitzender der Sektion Gruppenmethoden in Klinik und Praxis im DAGG, 1979 – 1992 als Gründungsmitglied und stellv. VV in der Bayerischen Landesarbeitsgemeinschaft für kardiolog. Prävention und Rehabilitation und danach als langjähriger Vorsitzender des Fachbeirates, seit 1992 auch als Vorsitzender des Fachbeirates des Deutschen Wellnessverbandes , seit 2001 als Mitglied des Kuratoriums der Fairnessstiftung…usw.

[5] Willms Buhse, Sören Stamer (HG), Die Kunst loszulassen, Enterprise 2.0, Berlin 2008

Donnerstag, 21. Mai 2009

Du musst Dein Leben ändern! Peter Sloterdijks neues Buch

Peter Sloterdijk, Du musst dein Leben ändern, Über Anthropotechnik, Frankfurt 2009, Suhrkamp Verlag


Um mit der Zusammenfassung zu beginnen: Ich wünsche dem Buch, dass es von vielen Menschen ernsthaft gelesen wird. Es ist nämlich eine großartige Einführung in die Philosophie und das Philosophieren gleichzeitig.Und diese Art des Philosophierens ist einer möglichst großen Zahl von Menschen zu wünschen.

Dieses Buch fördert die Selbstreflektion , die sowohl das eigene Sein als auch das Sein für andere und mit Anderen verbessert, weil es den Leser an die Hand oder besser weil „Bergführer Sloterdijk“ seinen Gast ans Seil nimmt, um mit ihm die Vertikalen von Kultur zu entdecken und ihn einlädt, sich im Klettern in diesen Vertikalen mit ihm zu üben.

Der Untertitel „Zur anthropotechnischen Wende“ betrifft die zeitgeschichtliche Positionierung. Der rote Faden ist die Vermittlung einer Grundhaltung, „die Philosophie sei keine Disziplin, sondern eine Aktivität, die die Disziplinen durchquert.“ Am Leitfaden von Nietzsches Wiederaufnahme des Aufbruchs der Renaissance findet man sich klar positioniert in der anthropotechnischen Wende der Gegenwart, deren Topographie durch die reflektierten Kletterübungen dieses eleganten Kletterlehrers nachvollziehbar werden. Nietzsche, Heidegger, Foucault, Wittgenstein, wichtige Stücke der Antike von Heraklit über Sokrates und Platon machen deutlich, was „philosophischer Mehrkampf und dem Subjekt als Träger seiner Übungsreihen“ sein kann. Ein Training, das sich lohnt, wenn man sich aktiv in der Gegenwart zurechtfinden möchte und dabei einem inzwischen globalen Bezugsfeld sowohl okzidentaler als auch östlicher Kulturen ausgesetzt ist, die die Orientierung tatsächlich zu einer fordernden Bergtour ( Entdeckung des Vertikalen im Gegensatz zum Horizontalen) werden lassen.

Hier eine Textprobe, wie es in diesem Klettergarten (Mount Improbable) aussieht: auf S. 272 im Teil I „Die Eroberung des Unwahrscheinlichen“ im 3ten Kapitel „Schlaflos in Ephesos“ schreibt Sloterdijk: „Aus den asymmetrischen Zerfallsprodukten ergaben sich die tiefreichenden Differenzen zwischen den Rationalitätskulturen bzw. den „Ethiken“ des Okzidents und des Orients. Während sich auf dem westlichen Pfad, um summarisch zu reden, ein Denken ohne Wachen durchsetzte, das sich dem Ideal der Wissenschaft verpflichtete, kam auf dem östlichen Pfad eher ein Wachen ohne Wissenschaft zum Zug, das Erleuchtungen ohne begriffliche Präzisierungen anstrebte – angelehnt an einen Staatsschatz von Weisheitsfiguren, der mehr oder weniger allen Meistern gehört. Heideggers Versuch, die Alternative von Szientismus und Illuminismus in neo-vorsokratischer Haltung zu unterlaufen, erbrachte ein Konzept von >Denken<, das deutlich näher beim meditierenden Wachen als bei der Konstruktion oder Dekonstruktion von Diskursen lag. Seine späte Pastorale des Seins, die mehr einem Exerzitium als einer diskursiven Praxis gleicht, weist auf das Unternehmen hin, die Bewußtseinsphilosophie nach ihrem aufrüttelnden Durchgang durch die Existenzphilosophie in eine welthaltige Wachheitsphilosophie zu verwandeln.“

Das Buch ist auf seinen 714 Seiten eine den Leser herausfordernde Tour, mit neuartigen Aussichten, die die Anstrengungen des Lesens aber Wert sind. Der Leser wird von Sloterdijk gefordert, seine eigene Position zu reflektieren, sonst kann er die neuen Aussichten nicht genießen. Er muss dann eben im Basislager verbleiben. Wer nicht im Basislager verbleiben will, hat die Chance einer Entdeckung, die „den Menschen beschreibt in aller Diskretion als Akrobaten der virtus – man

könnte auch sagen: als Träger einer moralischen Kompetenz, die in soziale und künstlerische Leistungskraft übergeht. Das ist die weit geöffnete Tür, durch welche die Denker der Renaissance bloß zu gehen brauchten, um die Heiligen in die Virtuosen zu verwandeln“ ...und damit die anthropotechnische Wende einzuleiten.

Wer nicht im Basislager bleiben will, also die mutwillige Verarmung durch Bourdieus Habitus- Begriff nicht teilen will, ist eingeladen zu weiteren Expeditionen. Dann müsste er allerdings auch bereit sein, Sloterdijk in seinem kritischen Plädoyer über „Identität als das Recht auf Faulheit“ (S.296) zu folgen. Das würde ihn weiterführen zu dem Kernthema des ganzen Buches: „Sein Leben ändern heißt nun: durch Aktivität ein Übungssubjekt heranbilden, das seinem Leidenscchaftsleben, seinem Habitusleben, seinem Vorstellungsleben überlegen werden soll. Subjekt wird hiernach, wer an einem Programm zur Entpassivierung seiner selbst teilnimmt und vom bloßen Geeformtsein auf die Seite des Formenden übertritt. Der ganze Komplex, den man Ethik nennt, entspringt aus der Geste der Konversion zum Können. Konversion ist nicht der Übergang von einem Glaubenssystem zu einem anderen. Die ursprüngliche Bekehrung geschieht als Austritt aus dem passivischen Daseinsmodus in Tateinheit mit dem Eintritt in den aktivierenden. Dass die Aktivierung und das Bekenntnis zum übenden Leben dasselbe bedeuten, liegt in der Natur der Sache. Mit diesen Hinweisen wird präziser fassbar, was Nietzsche gesehen hatte, als er in seinen Überlegungen Zur Genealogie der Moral die Erde als asketischen Stern charakterisierte. Die Askesis war von dem Augenblick unumgänglich geworden, in dem eine Avantgarde von Beobachtern sich genötigt sah, über ihren Schatten zu springen – genauer die drei Schatten, die ihnen in Form von Leidenschaften, Gewohnheiten und unklaren Ideen anhängen.“

Zur Struktur des Buches: Nach einer Einleitung zum Thema der anthropotechnischen Wende und einer Beschreibung des Planeten der Übenden mit Ausführungen zu Rilke, Nietzsche, Unthan,Kafka und Cioran sowie einem spannenden Exkurs über Pierre de Coubertin und Ron Hubbard und sein Scientology System folgt eine vielgliedrige Beschreibung der Eroberung des Unwahrscheinlichen als Plädoyer für eine akrobatische Ethik. In einem gleichermaßen vielfältigen zweiten Hauptteil folgt dann die historische Darstellung der Übertreibungsverfahren, die die unausweichliche Konsequenz für diejenigen darstellen, die sich von der akrobatischen Ethik zur praktischen Umsetzung haben anstiften lassen. Der Bogen wird weit gespannt: von der Antike, in der die äußerste Mobilmachung im Namen von Übung und Perfektion geschah, bis zur Moderne, in der die höchste Mobilmachung der menschlichen Kräfte sich vornehmlich unter dem Vorzeichen von Arbeit und Produktion vollzog. Der dritte Teil widmet sich den Exerzitien der Modernen in ihren vielfältigen Trainingslagern, die vorbereiten auf einen vernünftig plausiblen Schlussakkord: Der Imperativ „Du musst dein Leben ändern“ stellt sich gleichermaßen den Menschen der Gegenwart als permanente Aufgabe in einer Welt, die Sloterdijk als Geschichte von Immunsystemkämpfen begreift, in der schließlich an die Stelle kultureller Übertreibungsverfahren und einer Romantik der Brüderlichkeit eine aufgeklärte kooperative Logik trifft. Diese Logik beinhaltet den Entschluss, „in täglichen Übungen die guten Gewohnheiten gemeinsamen Überlebens anzunehmen.“

Freitag, 24. April 2009

Woran der Kapitalismus krankt...

Woran der Kapitalismus krankt...

In der SZ vom 24.4.2009 S. 8 erschien ein bemerkenswerter Grundsatzartikel unter obigem Titel von dem renommierten Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde. Leider habe ich auf der Website der SZ noch keinen Link für diesen Artikel ausmachen können. Dieser Artikel jedenfalls gibt eine sehr differenzierte Auskunft, was auch Unternehmer ( gerade nach der Erfahrung der letzten Krise) beachten sollten, wenn sie einen sinnvollen Beitrag sowohl für sich selbst (Sinnwährung) als auch für die Gesellschaft machen wollen. Der Aufsatz macht sehr deutlich, dass reine Gewinnmaximierung nicht nur überholt, sondern schon immer der Irrtum derjenigen war, die sich auf ein der Komplexität des Lebens nicht gerecht werdendes Modell für ihr Handeln verschrieben haben. Gemessen an den "Gründern" Siemens, Bosch und vielen Anderen sind die Repräsentanten der Finanzwelt, denen wir den letzten Crash zu verdanken haben, Beispiele für ein Management, das in wesentlichen Kategorien der Komplexität der heutigen Welt nicht gerecht werden konnte und wenn sie denn ihr Tun mit dem Prinzip der "Gewinnmaximierung" begründet haben, dann zeigt die differenzierte Analyse, dass dieses Prinzip nicht ausreicht, um die Moderne angemessen zu managen. Ich empfehle, den genannten Aufsatz von Böckenförde zu lesen. Ich werde dem Thema "Komplexität und Leistung" in weiteren Beiträgen sicherlich weiter nachgehen.

Mittwoch, 22. April 2009

Zeitumgang


Als ich das erste Mal auf das Frühwerk von Karl Jaspers " Die allgemeine Psychopathologie" stiess, war ich besonders von dem Kapitel über Zeit beeindruckt. Einer der Aspekte, unter dem Jaspers "Zeit" betrachtet, ist Zeitumgang.

Als ich heute das neue Heft von "pro Zukunft" der www.jungk-bibliothek.at/prozukunft anschaute, entdeckte ich einige interessante Besprechungen zu dem Thema "Entschleunigung", die ich anregend finde im Hinblick auf das Thema Zeitumgang. Ich kann das Abonnement übrigens nachhaltig empfehlen.

Ich werde versuchen, die Texte als Dateien hier hochzuladen und bin neugierig, was sich zu diesem Thema hier an Überlegungen entwickelt.